BÄRNER STADTFESCHT 2022
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Gina Été
SAMSTAG | 13.00 Uhr | Waisenhausplatz | Vo Bärn | Newcomer:in
Kunstvolle Popmusik und starke Statements sind selten gemeinsam anzutreffen. Sind Songs persönlich, haben sie für manche zu wenig gesellschaftliche Relevanz, sind sie politisch, tritt die Musik oft in den Hintergrund. Aber man kann auch alles zusammen haben: atemlose Intimität, politische Awareness und Musik, die so vielschichtig, überraschend und dicht ist, dass sie nicht mal Texte bräuchte. Die Rede ist von der Zürcher Musikerin GINA ÉTÉ. Seit ihrer beeindruckenden EP «Oak Tree» von 2019 wird sie in internationalen Medien in einem Atemzug mit Sophie Hunger und Björk genannt. Dabei sind die Vergleiche gar nicht nötig – und können die Einzigartigkeit der Schweizerin und ihrem Hybrid Pop auch nicht einfangen: Die ausgebildete Bratschistin, die außerdem Klavier und Synths spielt, singt auf Deutsch, Schweizerdeutsch, Englisch, Französisch, und schreibt Songs zwischen Trauer, Wut und Hoffnung, mal akustisch, mal elektronisch, allein und mit ihrer Band, mal rhythmisch vertrackt, mal jazzig, komplex arrangiert, aber trifft einen dann doch unmittelbar, setzt sich in Kopf und Ohr fest.
«Ich wünsche mir, dass du nicht existierst – es ginge mir besser!», etwa singt, nein, klagt sie in «Mauern». Überhaupt, ihre Stimme: mal kratzbürstig, mal anschmiegsam, immer ausdrucksstark. Den Song hat sie 2016 nach der Trump-Wahl geschrieben. Im Video: Das Elend an der Grenze von Mexiko zu Kalifornien. «Der Song ist gewissermaßen ein Kampf gegen die Ohnmacht. Er richtet sich an alle Machthaber, die menschenverachtend handeln», sagt sie. «Als Europäerin fühle ich mich mitverantwortlich für das, was aktuell an den Grenzen passiert.» Gesagt, getan: Sie lernte Arabisch und verbrachte einige Wochen auf der griechischen Insel Lesbos und half als Freiwillige in einem Lager für Geflüchtete. Daraus entstand der Song »Trauma« ihres Ende Mai 2021 erscheinenden Debütalbums «Erased by Thought», der die Erlebnisse eines jungen Syrers thematisiert – aber aus der Perspektive eines Fragenden. Denn GINA ÉTÉ ist nicht your next tweet-barer darling für die schnelle Parole: Viel zu reflektiert denkt die Künstlerin ihre eigene privilegierte Herkunft mit, «femme bourgeoise struggling with her roots», wie sie selbst sagt. «Ich bin diejenige, die das Lager jederzeit verlassen konnte. Mich beschäftigt das, weil das jetzt so engagiert aussieht, aber in Wahrheit fühle ich mich auch einfach ohnmächtig. Und ich will sicher keine Songs schreiben, um mir das Gewissen reinzuwaschen.» Diese Gefahr besteht zu keinem Zeitpunkt. «How does the weight of your past now cause you pain?», beginnt der Song, und endet mit «I am sorry for what my country‘s done to you», der einzigen Zeile, die nicht als Frage formuliert ist.
Wer spricht hier über wen? Was ist die eigene Rolle – und was auch nicht? Es ist dieser Zwiespalt, der GINA ÉTÉ als Mensch ausmacht und den sie in ihrer Musik zu einem spannungsreichen Ganzen zu verknüpfen weiß. «Der Begriff Politik ist negativ behaftet, als handelt es sich dabei nur um Männer in Anzügen, dabei ist unser kompletter Alltag und alles, was wir tun, politisch», sagt sie. Selbstverständlich für die Musikerin, sich als Aktivistin für die größte Herausforderung der Zukunft einzusetzen: den Klimawandel. Hashtags wie #evakuierenjetzt, #climatestrike und #feminism stehen in ihrer Insta-Bio gleichwertig neben «songwriter», «arranger» und «viola». Im Video ihrer Single «Windmill» etwa drängen sich Stoffpinguine auf einer von Plastik zugemüllten Eisscholle.
Auch im Debütalbum «Erased by Thought» stecken zwölf Denkanstöße – in zwölf eigenen musikalischen Welten. Gemeinsam mit ihren drei Musikern Jeremie Revel, Phillip Klawitter und Noé Franklé hat GINA ÉTÉ die Stücke in San Francisco bei John Vanderslice (Death Cab for Cutie, St. Vincent, Dear Reader) voll analog aufgenommen. In einem Moment denkt man, das ist genau die richtige Musik, um in einem Wollpulli in einer Altbauküche mit einem Glas Weißwein in der Hand an einem Novembertag aus dem Fenster zu schauen, im nächsten fühlt man sich, als befinde man sich unter eine Gruppe subversiver Studenten, die sich in einer verlassenen Industriehalle ein Quartier als Denkfabrik eingerichtet haben. Aber über alledem verliert GINA ÉTÉ nie den Humor, was die Wärme ihrer Live-Auftritte widerspiegelt. «Manche Leute, die mich persönlich kennen, sind erstaunt über einige Songs und fragen mich: Huch, du wirkst auf uns immer so fröhlich! Haben wir was verpasst? Ich muss sie dann beruhigen und sagen, dass alles okay ist, sondern dass das einfach die Themen sind, die mich beschäftigen!», sagt sie und lacht.
«Coral reefs covered in plastic/ German woods dissolve in brown coal/ Megacities make you lonely/ Should one person make you whole?», singt sie in »All Or Nothing«. Da ist sie wieder, GINA ÉTÉ’s kunstvolle Verknüpfung von Persönlichem und Politischem zu Hybrid Pop . «Each country and its army / Say we defend, say we must!», singt sie weiter. Fragmentarisch, tastend, dringlich. Das ist Musik für diese Zeit.